Die Reaktionen auf die Enthüllungen von WickyunddiestarkenLeaks sind geteilt: Während die Medien sich mit wildem Blutdurst auf jedes noch so profane Detail stürzen, verurteilen die Politiker die Veröffentlichung als - alles Mögliche. Die USA, schon immer nicht gerade für ihre überragende Liebe zur Rechtsstaatlichkeit bekannt, machen sogar Druck auf private Netzbetreiber, Wikileaks vom Netz zu nehmen (eine Vorgehensweise, die man bei Chinesen oder Nordkoreanern in jedem Fall als Anzeichen für eine Diktatur werten würde). Und allerorten werden die Messer gewetzt oder demonstrativ in den Köcher zurück gesteckt.

Weil ja alles gar nicht so schlimm ist.

 

Wirklich?

 

Zunächst sollte man einmal darauf eingehen, was Herrn Assange eigentlich bewegt, derartige Depechen der Diplomaten zu veröffentlichen. Sein Weltbild ist darauf gerichtet, ein Gegengewicht zur Staatsmacht aufzubauen. Der Staat schnüffele seine Bürger aus und weiß alles über sie, der Untertan dagegen steht rechtlos und vor allem ohne Wissen über "die da oben" da. Und da will Wikileaks gegensteuern: Mit mehr Wissen über die Geheimnisse des Staates soll der Einzelne auf Augenhöhe mit der öffentlichen Übermacht gestellt werden.

So weit, so ambitioniert und nachzuvollziehen.

 

Aber dadurch das fragile Gleichgewicht der Welt gefährden?

 

Muß man über alles die Wahrheit sagen? Die Wahrheit ist: Man kann auch mit der Wahrheit lügen. Und die Wahrheit bekannt zu machen, kann auch schädlich sein. Einem Todkranken die traurige Wahrheit seines baldigen Ablebens offen ins Gesicht zu sagen, kann diesen den letzten Rest seines Überlebenswillens rauben. Und damit kann die Wahrheit töten. Die bittere Wahrheit zurückzuhalten, kann in diesem Extremfall sogar bewirken, daß die Selbstheilungskräfte des Körpers bemüht werden.

Und der Todgeweihte seine Krankheit überwindet.

 

Man muß nicht jedem immer und überall die Wahrheit sagen.

 

Oder muß jeder picklige Teenager jederzeit auf seine Hautunreinheiten aufmerksam gemacht werden? Muß man den Übergewichtigen jederzeit vor Augen halten, daß sie dick sind? Den Dummen, daß sie am besten immer die Klappe halten sollten (wobei da etwas dran sein könnte)? Muß man der Nachbarin stecken, daß man den Verdacht hat, ihr Ehemann könnte es mit der ehelichen Treue nicht so genau nehmen?

Wenn man falsch liegt, könnte man im Extremfall damit sogar eine Ehe zerstören.

 

Das Gute wollen und das Böse bewirken.

 

Man kann auch mit der Wahrheit lügen, wenn man unter "Lüge" auch versteht, nicht das Gute zu wollen. Denn wenn die ultimative Wahrheit darin bestünde, daß alles dem Bösen geweiht wäre: Bei Gott, ich würde sie nicht wissen wollen.

 

Und die Wahrheit ist auch an das Wort gebunden (wie man im Fall von Wikileaks auch sieht): So ist jemand nicht unbedingt eine "merkwürdige Wahl", wenn er als "queer pick" bezeichnet wird. Der SPIEGEL hätte vielleicht bessere Übersetzer für die Story des Jahres anstellen sollen, denn "überraschende Wahl" wäre richtig und auch viel harmloser gewesen.

Aber man war vielleicht nicht auf Harmlosigkeit aus.

 

Sondern auf Sensationen.

 

Mögen die Sensationen bei den westlichen Staaten noch auf Besonnenheit treffen, so kann bei kritischen Beziehungen eine subjektiv geäußerte "Wahrheit" gefährlich werden. Kein Diktator hört gerne, daß er ein Diktator ist. Er weiß es vermutlich selbst, aber lesen will er es nicht. Jeder weiß, wie schädlich fettes und reichhaltiges Essen für die Gesundheit sein kann, aber man will es nicht beim Essen hören, das kann einem den Appetit verderben. Allerdings erholen sich menschliche Mägen zuweilen besser als unmenschliche Tyrannen. Und schon wird es schwerer, Zugeständnisse an Menschenrechte abzuringen.

Die Wahrheit wurde vielleicht gesagt.

 

Aber sie macht die Welt nicht besser.

Zu befürchten ist, daß die Wahrheit der einen (so ehrlich muß man sein) zu einer Verschlechterung führen kann.

 

Muß man ehrlich sagen.

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