Es ist auch ein Segen, daß der Mensch vergißt. Wer will sich schon ständig an überwundene Probleme erinnern, den ersten Liebeskummer oder eine schwere Krankheit im Kopf haben. Mit der Zeit verblaßt die Erinnerung an schwere Zeiten, man kann neuen Mut schöpfen und nach vorne schauen.
Ballast muß man abwerfen, wenn er einen behindert.

Allerdings ist Vergessen auch ein Fluch. Das werden alle Schüler bestätigen, die sich während ihrer Mathematik-Schulaufgabe an alles mögliche erinnern, nicht aber an die Schulstunde, in der es um die binomischen Formeln ging. Das hat man alles gehört, wenn man aufgepaßt hat.
Gemerkt hat man sich das aber leider nicht.

Lernen ist der ständige Kampf gegen das Vergessen.

Dinge, die einen interessieren, behält man leichter im Gedächtnis als solche, die einem weniger liegen. Wohl dem, der allgemein an Vielem interessiert ist. Und die dumpfen Persönlichkeiten, die ihre Interessen meist mit "Shoppen, chillen, Party machen" angeben, kriegen weniger mit.
Und das wenige, das sie überhaupt mitbekommen, vergessen sie auch noch schnell. 

"Vergiß es" nehmen manche allzu wörtlich.

Aber Vergessen ist auch eine überindividuelle Angelegenheit. Liegt ein Ereignis lange genug zurück, wird es aus dem kollektiven Gedächtnis eines Volkes gelöscht. Zwei Jahrzehnte nach dem Fall der Mauer verklärt sich etwa der Blick auf das Unrechtsregime der DDR; so mancher wünscht sich die Mauer zurück (nicht nur Wessis) und blendet dabei Stasi, Willkür und Eingesperrtsein, Mangelwirtschaft und Parteipropaganda aus. Selbst die Diktatur unter Hitler wandelt sich im Laufe der Zeit in ein Herrschaftssystem, das nicht so schlecht war, sondern nur schlecht gemacht wurde, das hatte auch sein Gutes (wobei sich "gut" im Zusammenhang mit dem III. Reich grundsätzlich verbietet). Man hat den Terror der Palästinenser vergessen und daß die FDP das freie Spiel der wirtschaftlichen Kräfte, das mit ein Grund für die allgemeine Wirtschaftskrise war, jahrzehntelang gebetsmühlenartig favorisiert hat.
Aber was interessiert die Menschen das Geschwätz von gestern. 

Wo es doch Geschwätz von heute gibt, an das sich morgen keiner mehr erinnern wird.

So lohnt es sich gelegentlich, nachzulesen, was Politiker vor der Wahl alles versprochen hatten (und momentan haben wir gerade eine Phase vor den Wahlen) und sich nach den Wahlen in eine allgemeine Amnesie flüchten. So lohnt es sich, die großen Verbrechen der Menschheit nicht aus den Augen und den Archiven zu verlieren, um sie sich nicht wiederholen zu lassen und schon tunlichst deren verfängliche Anfänge zu bekämpfen. So lohnt es sich, Erfahrungen zu machen und sie sich vor Augen zu halten (wenn nötig, in einem Tagebuch), wenn man im Begriff ist, denselben Fehler gnadenlos zu wiederholen. 
Aber wer erinnert sich schon gerne an seine Fehler oder wird an sie erinnert.

Erinnerungen sollen vor allem schön sein, auf schlechte Zeiten will man sich nicht besinnen.

Und so drehen sich im Laufe der Jahre die vergangenen Sünden in Tugenden, unsägliche Langeweile wandelt sich in der Rückschau in heldenähnliche Vabanque-Geschichten und die eigene Biographie liest sich im eigenen Kopf wie eine spannende Geschichte, aus der alle Bitterstoffe herausgefiltert wurden wie Kaffee in einer hochwertigen Kaffeemaschine. Nur Aromen bleiben im Gedächtnis, alles andere wandert in den Müll.
Nur ab und zu blitzt eine unangenehme Erinnerung durch, verschwindet aber schnell wieder in der Ablage.

Und wird durch etwas Angenehmeres überschrieben, rumort vielleicht noch ein wenig in der Psyche herum, stört aber nicht weiter, solange man sich in in psychotherapeutische Behandlung begibt.
Und wer macht das schon.

Ja, so kommt die gute, alte Zeit zustande. Früher war alles besser, weil heute auch Schlimmes passiert, früher aber nichts dergleichen.
Das wüßte ich doch. 
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